Wie das Tal des Todes zu neuem Leben erwacht
Am Morgen des 25. November 1895 zog eine Karawane mit über 1150 Mann durch das große Rift Valley im Zentrum Kenias. Die Karawane bestand aus etwa 1100 Kikuyu und 150 Swahili-Männern von der Küste, die die Karawane anführten. Sie waren auf dem Weg von Ravine im Landesinneren, wo sie ein britisches Fort versorgt hatten, zurück an die Küste. Im Kedong Valley bei Mai Mahiu trafen sie auf die Masai, die dort mit ihrem Vieh lebten.
Offenbar gab es Probleme mit der Disziplin der Männer in der Karawane: Sie stahlen Milch von den Masai und vergewaltigten zwei Mädchen. Als die jungen Krieger, die Moran, davon erfuhren, kam es zu einem schrecklichen Massaker, bei dem die Masai über 600 Kikuyu und Swahili töteten. Die Engländer nannten den Ort daraufhin das „Tal des Todes“.
Am späten Abend des 13. Oktober 2024 werden wir von unserem Gastgeber Benson Mungai (einem Kikuyu) am Flughafen in Nairobi abgeholt. In einer Kolonne mit drei Autos fahren wir entlang der alten Handelsstraßen, auf mittlerweile gut ausgebauten Autobahnen, in Richtung Rift Valley.
Es ist mitten in der Nacht, und doch leuchten im Tal des Kedong Rivers jede Menge Lichter, die vor zwei Jahren noch nicht zu sehen waren. Es tut sich etwas in diesem Tal: Die Bahnstrecke endet nicht mehr im Nirgendwo, sondern hat einen Anschluss an die alte Strecke bekommen. Ein Inland Container Depot wurde gebaut, ein Industriegebiet entsteht unweit der Bahnstation, und überall schießen neue Steinbrüche aus dem Boden, aus denen Maschinen große Mengen an Steinen schneiden.
Die Masai leben dort noch immer. Ihren nomadischen Lebensstil haben sie längst aufgegeben. Sie wohnen in winzigen Hütten, Krieger gibt es nicht mehr. Doch ihr Vieh ist nach wie vor ihre Lebensgrundlage. Auch die Kikuyu haben sich mittlerweile dort unten im Tal niedergelassen, Land gekauft, eine Wasserleitung verlegt und vereinzelt Farmen angelegt.
Noch ist dieses Land größtenteils eine unwirkliche, staubige Steppe, die nur in der Regenzeit aufblüht. Dann führt auch der Kedong River Wasser – in diesem wunderschönen Tal, das die Engländer einst das „Tal des Todes“ nannten.
Am nächsten Morgen werde ich von Vögeln geweckt, die an die verspiegelten Fensterscheiben picken. Noch im Dunkeln laufen die ersten Kinder auf den Schulhof. Dabei ist es doch erst kurz nach 6 Uhr – sie können es anscheinend kaum erwarten, bis die Schule beginnt. Fast schlagartig wird es hell.
Es tut sich etwas in diesem Tal, auch bei Nipe Tumaini, unserem Projekt, das wir dort unterstützen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir vor 10 Jahren mitgeholfen haben, das erste Kinderheim zu bauen. Inzwischen sind es zwei Heime, in denen 21 Kinder leben, dazu eine Schule für über 150 weitere Schüler und eine große Landwirtschaft, in der so ziemlich alles angebaut wird, was man hier zum Leben braucht.
Doch es sind nicht die Gebäude, die wir hier gebaut haben, die diesen Ort zu etwas Besonderem machen. Es sind die Menschen! Die Gastfreundschaft, die sie uns entgegenbringen, ist wie immer überwältigend. Ich fühle mich sofort wieder wie zu Hause – Teil einer großen Gemeinschaft.
Mit einem üppigen Frühstück aus Mandazi (Krapfen), Früchten, Chai, Eiern und sogar Würstchen werden wir begrüßt. Wir, das sind 13 Leute aus ganz Deutschland. Menschen, die über persönliche Beziehungen, über ihre Gemeinde oder weil sie Benson auf seinem Besuch in Deutschland kennengelernt haben, auf Nipe Tumaini aufmerksam geworden sind.
Zum Teil unterstützen sie das Projekt schon seit Jahren. Jetzt haben sie die Gelegenheit ergriffen, einmal mit eigenen Augen zu sehen, was hier geschieht.
Und das ist schon eine ganze Menge! Insbesondere die Schule ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Jedes Jahr wurde ein neues Klassenzimmer gebaut, damit ein neuer Jahrgang untergebracht werden konnte. Wir helfen mit, zwei Klassenzimmer zu streichen, damit dort demnächst neue Klassen einziehen können.
Unter Anleitung zweier einheimischer Maler haben wir schnell den Dreh raus. In der Pause helfen sogar die Kinder mit. Wir haben viel Spaß, und am Ende der fünf Tage Arbeit sind wir sehr stolz, einen sichtbaren Beitrag geleistet zu haben.
Andere aus unserem Team arbeiten auf der Farm mit. Es ist gerade Zwiebelernte. Das Ausgraben der Zwiebeln ist ein Knochenjob: Die Erde ist hart, und die Sonne sticht erbarmungslos auf uns ein. Trotzdem haben wir großen Spaß daran, und am Ende des Tages haben wir eine echte Ahnung davon, wie hier gearbeitet wird.
Mit Blasen an den Händen, aber glücklich, beschließen wir den Tag.
Unsere Lehrer und die anderen Mitarbeiter freuen sich schon darauf, bald überall auf dem Gelände Internet über WLAN empfangen zu können. Wir schweißen Masten für Antennen, richten das Satelliteninternet über Starlink ein und überreichen den glücklichen Lehrern alle persönliche Laptops, die uns eine Firma aus Deutschland gespendet hat.
Mit den Laptops können die Lehrer erstmals selbst am Computer Unterricht vorbereiten und die größte Wissensressource der Welt nutzen: das Internet. Ich versuche ihnen in einer kleinen Rede deutlich zu machen, welche Chancen sich dadurch für sie ergeben, aber auch mit welchen Gefahren und Risiken dieser bedeutende Schritt verbunden ist.
Ich vergleiche das Internet mit einem Geist in der Flasche: Bevor man sie aufmacht, weiß man nicht, ob der Geist gut oder böse ist. Die Flasche ist geöffnet, der Geist ist draußen!
Gleich am ersten Tag lädt ein Lehrer Noten in das Onlineportal der Regierung hoch. Gleichzeitig schaut ein Arbeiter einen Bollywood-Kung-Fu-Film auf dem Handy – dabei soll er doch Klassenzimmer streichen. Was man eben so alles tun kann mit dem Internet. Hausaufgabe für die Lehrer: Regeln aufstellen und Umgangsformen entwickeln. Das wird sicher nicht einfach, aber ich hoffe, sie machen das Beste daraus!
Als Leitungsteam fahren wir auf einen Retreat nach Brackenhurst bei Limuru. Auf dem historischen Anwesen, das früher ein Erholungsheim für britische Soldaten war, die im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpften, können wir uns nun erholen und neue Kraft tanken.
Wir reflektieren und planen, hinterfragen und entwickeln neue Ideen. Nach den Jahren des Aufbaus wollen wir nun stärker in die Ausstattung und Qualität investieren. Den Schulhof pflastern, eine eigene Küche für die Schule bauen, ein Lager und eine Werkstatt einrichten und erste Renovierungen am ersten Kinderheim durchführen. Auch die Ausstattung der Schule liegt uns am Herzen: ein Kopierer, weitere Computer und Möbel wären wünschenswert.
Am Sonntag feiern wir zusammen mit den Kindern und Mitarbeitern Gottesdienst. Es ist ein eher steifes Zeremoniell, irgendwie weniger lebhaft, als man es sich vielleicht vorstellt.
Doch der Glaube an Gott ist ein elementarer Bestandteil der Gemeinschaft. Alles geschieht im Vertrauen auf Gott – er gibt und nimmt, segnet und lässt das Böse zu. Ohne Versicherungen oder Sozialstaat ist Gott die Hoffnung der Menschen.
Die Gemeinschaft der Christen trägt: Es wird für Notleidende in der Gemeinde gesammelt, und man kümmert sich umeinander. Es ist dieser Glaube, dass Gott hier etwas vorhat, der alles zusammenhält.
Eine weltweite Gemeinschaft trägt diese Arbeit, getragen von Gottes Liebe, die hier an die Kinder und die Gesellschaft um Nipe Tumaini weitergegeben wird – als ein Licht, eine Hoffnung im ehemaligen Tal des Todes.
Johannes
Oktober 2024