Es ist Sonntagabend, der 28. April. Die letzten Bewohner der Kleinstadt Mai Mahiu gehen langsam zu Bett. Noch immer quälen sich Lastwagen durch den Ort. Sie haben diesen Flecken Erde überhaupt erst zu dem kleinen regionalen Zentrum gemacht, das es heute ist. Die Stadt besteht aus Häusern entlang der Straße, hinter denen die Menschen neue Häuser gebaut haben, weil entlang der Straße kein Platz mehr war. Billige Hotels, LKW-Waschplätze, ein paar Läden, eine Krankenstation – was man eben braucht an diesem unwirklichen, heißen Ort unten im Rift Valley, wo früher die Massai mit ihren Herden durchzogen und heute die LKWs durchfahren. Leben hier 20.000, oder sind es 40.000 Menschen? Kaum einer seiner Bewohner nennt den „Ort des heißen Wassers“ seine Heimat. Es ist eine Stadt, die es nur gibt, weil es diese Straße gibt. Und weil auch die Trucker mal schlafen, essen oder andere Bedürfnisse haben, die diese Stadt zu befriedigen versucht. Sie nennen sie die „Old Naivasha Road“, eine endlose Kette von Lastwagen, die Container um Container von den Schiffen aus Mombasa nach ganz Ostafrika transportiert.
Mitten in der Nacht beginnt es zu dröhnen, ein Geräusch, das langsam zu einem tosenden Lärm anschwillt, und bevor die Menschen am Stadtrand sich fragen können, was das sein könnte, ist es zu spät für diejenigen, die ihre Häuser dort gebaut haben, wo noch Platz war. Auf dem Land, das günstig war oder dem Staat gehört. Günstig deshalb, weil die Einheimischen wissen, dass man hier nicht bauen sollte, weil hier in der Regenzeit Sturzbäche den Hang hinunterfließen können. Aber das ist lange her, seit drei Jahren hat es kaum geregnet, von Sturzfluten keine Spur. Wer ums Überleben kämpft, geht dorthin, wo Platz ist.
Weiter oben am Hang über der Stadt verläuft die alte Eisenbahnstrecke aus der Kolonialzeit, die „Meter-Gauge Railway“, wie sie genannt wird, weil die Gleise nur einen Meter breit sind. Auf ihr fahren heute noch Güterzüge, wenn sie nicht gerade mal wieder irgendwo auf dem langen Weg nach Uganda unterbrochen ist. Bevor es die Straße gab, war dies die Lebensader Kenias. Damals, als die Engländer diese Bahn, die „Lunatic Line“, in ihr „Happy Valley“ bauten. Die Bahn in die Dunkelheit, von der Küste bis nach Uganda, ein kühnes, teures Projekt, das damals unter den Kolonialmächten für Aufsehen sorgte. Eine Eisenbahn, um ein Land zu erschließen, in dem nur Wilde lebten, Völker ohne Zivilisation, ohne Sinn für die Ressourcen, die sich hier boten. So dachten damals wohl die Siedler. Diejenigen, die den Mut hatten, sich hier niederzulassen, weil es ihnen in England zu eng, zu spießig, zu kalt und zu langweilig war, und überhaupt, weil es Typen waren, die dort nicht mehr zurechtkamen und lieber für die Krone die Welt eroberten.
Schon damals waren die Wassermassen, die hier gelegentlich den Berg hinunterstürzten, ein Problem für diese Bahnstrecke. Also hat man einen Tunnel darunter gegraben, durch den das Wasser im Fall der Fälle abfließen konnte. Das scheint lange funktioniert zu haben, denn unten im Tal, wo das Wasser hinfloss, wohnte ja niemand – damals, in der Kolonialzeit, die Kenia nie loszulassen scheint.
Nur an diesem Tag war alles anders. Seit Tagen hatte es geregnet, doch nach drei Jahren Dürre änderte das Wetterphänomen El Niño alles. Während es in Südamerika trocken und heiß ist, regnet es in Ostafrika dies Jahr ungewöhnlich viel. Auch an diesem Tag ist es zu viel für die ausgetrockneten Böden. Geröll und Schlamm verstopfen den Abfluss unter der Bahnlinie. Erst läuft der Tunnel voll, dann staut sich das Wasser dahinter wie an einem Staudamm. Auch das passiert nicht zum ersten Mal, die Menschen kennen das Phänomen. „Dark Tunnel“ nennen sie die Stelle in „Old Kijabe“, rund um den alten Bahnhof der einst größten Missionsstation Afrikas, die dort an den sanft abfallenden Hügeln liegt. Doch in dieser Nacht funktionierte der „Dark Tunnel“ nicht wie geplant. Er hielt den Wassermassen nicht stand. Erst wurde er durch Erdrutsche verstopft, dann brach er, und mit ihm ergoss sich eine gewaltige Flutwelle aus Wasser und Geröll ins Tal. Die Menschen, die dort schliefen, wo sich der Fluss seinen Weg bahnte, hatten keine Chance. Häuser, Autos, Tiere, Männer, Frauen, Kinder, alles wurde mitgerissen!
Inzwischen bei Nipe Tumaini. Das Kinderheim liegt etwa zehn Kilometer vom Ort der Katastrophe entfernt. Mitten in der Nacht erhält der Leiter Benson Mungai einen Anruf von einem Freund aus Mai Mahiu. „Pass auf, das Wasser kommt“, warnt er ihn! Benson steht sofort auf, geht hinaus, weckt die Nachbarn und telefoniert mit allen möglichen Leuten. Er will wissen, welchen Weg das Wasser nimmt, wo es die Hauptstraße überquert und wann es kommt. Es gelingt ihm, Menschen zu warnen, die zu nah am „Kedong River“ wohnen, der Schlucht, die sich kaum 100 Meter hinter dem Kinderheim durch das Tal schlängelt und in der eigentlich fast nie Wasser fließt. Eigentlich, denn wenn doch, dann richtig! Dieses Wasser kann tückisch sein! Während im Tal die Sonne scheint, kann es in den Bergen Gewittern und plötzlich schießt das Wasser durch das Wadi, ohne dass jemand damit rechnet. Kinder auf dem Schulweg, Hirten und sogar Polizisten der nahe gelegenen Polizeistation sind so schon ums Leben gekommen. Aber dass solche Wassermassen wie heute durch den Graben strömen, damit konnte man nicht rechnen, noch dazu mitten in der Nacht. Es war auch völlig unklar, ob das Wadi groß genug ist oder ob es überlaufen würde.
Es lief zwar nicht über, aber diesmal kam nicht nur Wasser, sondern alles, was die Fluten auf ihrem Weg mitgenommen hatten. Am nächsten Morgen zeigte sich das ganze Ausmaß der Katastrophe. Der Fluss war längst wieder ausgetrocknet, als die Menschen begannen, die Männer, Frauen und Kinder zu bergen, für die jede Hilfe zu spät kam. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, gegen 10 Uhr las ich in Deutschland davon und telefonierte mit Benson. Gott sei Dank waren alle bei Nipe Tumaini wohlauf und das Gelände nicht überflutet. Doch der Schock saß tief! Wie konnte das passieren, wie viele Menschen sind gestorben? Zu diesem Zeitpunkt war der Hergang der Tragödie noch völlig unklar.
Im Laufe des Tages wurde immer deutlicher, was geschehen war. Mehr als 45 Menschen waren sofort tot, viele wurden noch vermisst. Später stieg die Zahl der Toten auf über 80. Viele Familien verloren ihr Zuhause, das Rote Kreuz richtete Auffanglager in Schulen ein, der Präsident schickte die Armee auf die Suche nach den Vermissten, versprach schnelle Hilfe, wie das Politiker eben so tun.
Schnell wurde die Schuldfrage gestellt. Warum war das passiert? Wer hatte Mist gebaut, warum war der „Damm“ gebrochen? Die Nachrichten sprachen von einem Dammbruch, doch eigentlich war es gar kein richtiger Damm, aber menschengemacht war die Katastrophe dennoch. Warum gab es dort Häuser, so nah an diesen saisonalen Flüssen? Hatte man nach drei Jahren Dürre vergessen, dass es hier auch mal richtig regnen kann?
Der Präsident hat eine weitere Woche Osterferien für das ganze Land angeordnet! Es hatte auch sonst viel geregnet und Mai Mahiu war nicht der einzige Ort, der an diesem Tag von Überschwemmungen heimgesucht wurde in Kenia. Doch einfach mal alle Schulen im Land zu schließen, das verstehe wer will! Alle Dämme wurden überprüft, das machte mehr Sinn, aber sollte das nicht Routine sein, und war das nicht eigentlich gar kein Damm? Bulldozer wurden losgeschickt, um Schneisen in Slums zu schlagen, illegale Häuser an Flüssen und in Überschwemmungsgebieten wurden einfach abgerissen. Die Menschen, die dort lebten, bekamen umgerechnet 70 Euro Entschädigung pro Familie, um sich woanders niederzulassen. Doch wo sollen sie hin? Es wird nicht lange dauern, bis diese Hütten wieder stehen!
Bei Nipe Tumaini haben wir überlegt, ob wir die Kinder evakuieren sollten. Das Gelände ist zwar sicher, aber die gerade erst ausgebesserte Straße ist kaputt. Es ist schwierig, in die Stadt zu kommen, zum Arzt, in die zivilisierte Welt. Aber wir haben alles, was wir brauchen vor Ort, und so beschließt Benson mit den Kindern und Mittarbeitern zu bleiben. Die Schule ist ja ohnehin noch eine Woche geschlossen. Ein paar Stunden nach einem Regenguss ist es wieder trocken, und mit dem Geländewagen findet sich dann doch immer wieder ein Weg nach Mai Mahiu – in die Stadt, die für ein paar Tage die Nachrichten in Kenia beherrscht hat. Doch das Leben geht weiter, die Menschen ziehen auf der Suche nach Arbeit in die Städte, sie bauen wo noch Platz ist, wo noch keine Häuser stehen, bis zur nächsten Katastrophe…