Die Älteren von euch werden jetzt eine Melodie eines alten Schlagers von Christian Anders im Ohr haben „…mit mir allein als Passagier, den es noch gestern gar nicht gab“… So wird es auch den Redakteuren zahlreicher Deutscher Medien gegangen sein, als sie diese Tage nach Überschriften suchten um ihren Artikel über die Eröffnung der neue Bahnstrecke in Kenia zu betiteln.
Wenn ich heute in Witten in die Bahnhofshalle von 1849 laufe, dann treffe ich dort auf viele Menschen die auf dem Weg sind. In die Schule, zur Arbeit, zum Einkaufen. Alte, Junge, Arme, Reiche, ein bunter Querschnitt unserer globalen, mobilen Gesellschaft. Wenn ich eintrete empfängt mich eine alte Diesellok, die die Azubis eines örtlichen Betriebes restauriert haben. Sie erinnert an alte Zeiten, als dieser Bahnhof noch eine Innovation war, einer der größte und modernsten in der Region, mit einer Wartehalle, Ticketschaltern und pompöser Architektur. Heute sucht ein Investor verzweifelt Mieter für das große Gebäude, denn es ist praktisch überflüssig. Das Ticket ist auf dem Handy, alle 10 Minuten fährt ein Zug ein, die Bahnsteige sind überdacht, wer braucht da noch einen Bahnhof? Das Gebäude mag überflüssig geworden sein, die Bahn ist es nicht, wir brauchen sie heute mehr denn je und so diskutiert die Regierung wie viel Geld denn jetzt dringend investiert werden soll, von gigantischen 156 Milliarden Euro bis 2030 ist die Rede.
Was werden sich wohl unsere Kinder bei Nipe Tumaini gedacht haben, als sie letzte Woche zum ersten Mal in ihrem Leben in einen Bahnhof gelaufen sind? Dieser ist noch größer und noch pompöser als der in Witten je war – mit Wartehalle, Ticketschalter und überdachtem Bahnsteig, nur sind hier kaum andere Menschen, denn der Zug endet tatsächlich nur eine Station weiter in Suswa, mitten im Rift Valley, in der praktisch unbewohnten Steppe Kenias. Dorthin ging dann auch der Ausflug unserer Kinder, einmal mit dem Zug zur Endstation und zurück.
Eigentlich sollte die Bahn weiter gebaut werden bis nach Uganda und zu einem Eisenbahnnetz ausgebaut werden, das den Südsudan, Ruanda und weitere Länder miteinander verbindet. Ein Teil der großen neuen Seidenstraße Chinas. Doch schon der erste Abschnitt von Mombasa an der Küste bis nach Nairobi macht Verluste, der Plan vom Verlagern des Frachtverkehrs auf die Schiene geht nicht auf, zu teuer! Und dann streiken auch noch die LKW-Fahrer, die dadurch ihre Jobs verlieren würden. China hat den weiteren Ausbau nun gestoppt. So hat sich das Präsident Kenyatta nicht vorgestellt, als er im Oktober trotzig den zweiten Streckenabschnitt von Nairobi nach Suswa einweite. Sein Prestigeprojekt droht krachend zu scheitern, denn ohne die Anbindung nach Uganda ist die Strecke praktisch wertlos. Kenia droht sich mit dem größten Infrastrukturprojekt seit der Unabhängigkeit hoffnungslos zu Überschulden und die immer größer werdende Abhängigkeit von China wird jetzt plötzlich kontrovers diskutiert. Dabei ist es wohl längst zu spät, daran noch etwas zu ändern. Zu verlockend waren die vermeintlich billigen Kredite und die Versprechungen, dass die Bahn diese schnell zurückzahlen würde. Die neuen Kolonialherren haben es zwar nicht geschafft wie die Engländer eine Bahn nach Uganda zu bauen, aber politischen Einfluss und den Zugriff auf Kenias Rohstoffe dürften sie sich dennoch gesichert haben. Den Menschen in Kenia bleibt nur die Hoffnung, dass die Bahn eines Tages doch noch zuende gebaut wird und ich bin gespannt, ob der Zug noch fahren wird und ob ich nur „mit mir allein als Passagier“ fahren werde, wenn ich das nächste mal Nipe Tumaini besuche und vom Flughafen direkt nach Mai Mahiu reisen möchte. Denn für mich fährt der Zug nicht nach Nirgendwo, sondern direkt zu unserem Kinderheim!