Ende Mai/Anfang Juni waren meine Frau Cari und ich für zwei Wochen in Kenia. In dieser Zeit haben wir viele Eindrücke von der Kultur dort erhalten. Wir haben ein Land der Extreme kennengelernt: Die Not, die Herausforderungen und Gefahren scheinen oft viel größer als in Deutschland – gleichzeitig rücken die Menschen in Kenia auf beeindruckende Art und Weise zusammen, um einander zu helfen: Egal, ob das Auto im Matsch festsitzt, es in Mädchenschulen an Hygiene-Basics fehlt oder alle zusammen schmeißen, um ihrem Freund einen großen Traum zu erfüllen – die folgenden Erlebnisse der gelebten Solidarität haben mich zutiefst beeindruckt.
1. Safari-Fahrer in der Maasai Mara: Niemanden in der Wildnis zurücklassen
Mitten im Maasai Mara Nationalpark in Kenia. Es ist fünf Uhr nachmittags, wir, das sind meine Frau Cari, unser Fahrer und ich, beenden unseren “Game Drive”. In einer Stunde wird es in der Wildnis stockduster sein. Dann wollen wir ungern noch unterwegs sein, machen uns also auf den Rückweg zu unserer Unterkunft.
Zwei Nächte verbringen wir in einem der bekanntesten Nationalparks Kenias und geben uns das klassische Touri-Programm: Steigen in geländetaugliche Allrad-Fahrzeuge und jagen querfeldein durch fast von Menschen unberührte Landschaften mit Elefanten, Geparden, Antilopen, Büffeln, Giraffen und viele weiteren Tieren, die man sonst nur aus dem Zoo kennt. Wir sind wir alle hier mit Fernglas und Kameras bewaffnet und durchforsten die Weiten des Nationalparks auf der Suche nach den “Big Five”, den fünf in Afrika beheimateten Tieren, die man auf einer Safari unbedingt gesehen haben muss.
Die Stimmung unter den Touristen und Fahrern auf so einer Fahrt ist nach außen hin locker und aufgelöst – und doch sind die Erwartungen hoch. Erstere haben einiges bezahlt, um die berühmten Tiere Afrikas in freier Wildbahn zu erleben und Zweitere wollen ihre Kunden nicht enttäuschen und wollen liefern. Das treibt so manchen Fahrer dazu an, bis aufs Äußere zu gehen und in Areale des Nationalparks zu fahren, in der gerade in der Regenzeit auch Allrad-Fahrzeuge im Matsch stecken bleiben.
“Ich komme hier nicht mehr raus und brauche Hilfe”, tönt es plötzlich aus dem Walkie-Talkie unseres Fahrers. Alle Fahrer, die im Nationalpark unterwegs sind, stehen im ständigen Kontakt miteinander. Wenn beispielsweise einer ein Löwenrudel unter einem Baum entdeckt, dann teilt er dies den anderen Fahrern mit, die dann mit Vollgas zum Ort der Entdeckung zusteuern. Und wenn einer in eine missliche Lage kommt, dann kann die Funkverbindung existenziell wichtig sein. So auch jetzt: Wir erfahren, dass irgendwo in unserem Umkreis jemand mit einem Fahrzeug festsitzt und sich nun unser Fahrer berufen fühlt, dieser Person zu helfen.
Mitten auf der Schotterpiste durch den Nationalpark machen wir kehrt und biegen auf einen kaum sichtbaren Pfad in eine Graslandschaft ein. Spannend, denken wir, irgendwo in diesem hüfthohen Gras im Dämmerlicht könnte ein Raubtier unbemerkt auf das Fahrzeug zu marschieren. Wir schließen die Seitenfenster lieber und erfahren nach zehn Minuten, dass irgendwo auf der anderen Seite eines Flusses ein Fahrzeug im sumpfigen Gelände festsitzt. Glücklicherweise folgt uns noch ein anderes mit zwei iranischen Touristen besetztes Fahrzeug. “Wir machen das immer zusammen”, sagt unserer Fahrer und mustert das steile Flussufer durch die Windschutzscheibe. Als er plötzlich aussteigt und hinabsteigt, ahnen wir, dass er den aberwitzigen Plan in seinem Kopf wahr machen möchte. “Nein, wird er doch nicht, das ist viiiel zu steil!”, sage ich Cari, nunr um im nächsten Moment eines Besseren belehrt zu werden. “Jesus, hilf uns!”, höre ich mich sagen, während wir dem Abgrund zusteuern.
Auf der anderen Seite des Flusses finden wir dann ein paar Minuten später das steckengebliebene Fahrzeug voll mit indischen Touristen. Aus ihren Gesichtern meine ich eine gewisse Mischung aus Genervtheit, Humor und Erleichterung zu lesen, dass sie die Nacht vielleicht doch nicht hier draußen in den Jagdgründen diverser Raubtiere verbringen müssen. Und vorne am Steuer ein lässig lächelnder Fahrer, ein junger Kerl, der zwar cool gestylet daher kommt, aber noch recht unerfahren zu sein scheint. Es braucht ein Seil, ein nicht im Matsch steckendes Fahrzeug und ein keine fünf Minuten, dann kann es für die indische Reisegruppe auch schon wieder weitergehen.
Während ich mich noch mit der Frage auseinander setze, warum wir uns eigentlich der Gefahr aussetzen, selbst im Dämmerlicht stecken zu bleiben, um diesem leichtsinnigen Schnösel zu helfen, erklärt uns unserer Fahrer: “Wir helfen alle einander. Niemand bleibt nachts in der Wildnis zurück. Ist doch klar!”
Ich bin von der Solidarität der Fahrer beeindruckt. Weil sie von unterschiedlichen Reiseunternehmen kommen, müssten sie doch Konkurrenten sein, die sich doch nur allzu sehr darüber freuen könnten, wenn die anderen in der Patsche sitzen. Inmitten der Unberechenbarkeit der afrikanischen Wildnis scheint diese Ego-Masche nicht aufzugehen.
2. Spontane Hilfe für ein Mädcheninternat
Ortswechsel, immer noch in Kenia, in einer “Boarding-School”, einem Internat speziell für Mädchen im Teenageralter. In der hallenartigen Aula sitzen wir auf Bänken in einem Art Elternabend – nur dass wir vormittag haben. Mehrere Hundert Eltern sitzen auf ihren Bänken und hören den Appellen der Schulleitung, Lehrern und Elternvertretung zu: Nur mit Disziplin, Fleiß und Härte kann aus ihren Kindern etwas werden – und dazu brauche es die Unterstützung und Mitarbeit der Eltern.
Ich habe den Eindruck, dass die Eltern dieser Privatschule eher aus der Mittelschicht kommen, die das Schulgeld für ihre Mädchen gut bezahlen können. Ich liege falsch. Wir sind mit unserem Freund Benson Mungai hier. Seine Frau Eunice und er sind Eltern und Gründer des Kinderheim- und Grundschulprojekt “Nipe Tumaini”. Eines der ehemaligen Mädchen des Projekts schickt Benson hier auf diese Schule, da es bei Nipe Tumaini für Schülerinnen ihres Alters (noch) kein Programm gibt.
Im kommenden Jahr wollen wir eine Junior-Highschool für die älteren Kinder von Nipe Tumaini und aus der Nachbarschaft gründen. Dafür brauchen wir ein neues Gebäude. Der Baustart soll bald beginnen. Hilf uns dabei, dieses Projekt zu realisieren.
Benson, der das Schulgeld auch mit Hilfe der Spenden des deutschen Nipe Tumaini e.V. aufbringt, erklärt uns: “Es gibt Eltern, die kratzen das Schulgeld für die Töchter so gerade eben auf, in manchen Zeiten reicht es aber auch nicht.” Und dann ergänzt er: “In solchen Situationen fehlt das Geld auch für grundlegende Hygienemittel wie Binden. Für die Mädchen ist das während der Periode sehr hart. Entweder greifen sie auf hygienisch fragwürdige Hilfsmittel zurück oder bleiben dem Unterricht fern.”
Ich schüttle den Kopf und frage mich, warum Bildung an solch einfachen Dingen scheitern muss.
Es sind ganz kleine Initiativen Einzelner, die hier in Kenia etwas Großes bewegen: Noch am selben Tag der Elternveranstaltung kontaktiert unser Freund Benson eine Reihe von Freunden und bittet um Unterstützung. Ein paar Tage später füllt er den Kofferraum seines Autos mit einigen Kartons mit Binden und macht sich auf den Weg zur Schule.
3. Für Studium in Down Under: Alle schmeißen zusammen
Paul richtet noch einmal die Krawatte und lächelt mich etwas nervös an. Der junge Mann im Anzug ist ein fleißiger, intelligenter und sehr zuvorkommende Mensch und Assistenz von Benson Mungai, Projektleiter von Nipe Tumaini. Für Paul ist Nipe Tumaini ein echtes Herzensprojekt, in das er in den letzten Monaten viel Zeit und Engagement gesteckt und Benson Mungai sehr entlastet hat. Und dennoch hat er einen großen Traum, den er sich außerhalb von Kenia erfüllen möchte: In Australien Pflege studieren. Die Zusage für das Studium hat er bereits. Die Kosten für das Visum sowie die Studiengebühren für das erste Semester kann er jedoch selbst nicht komplett aufbringen. Heute bittet Paul um finanzielle Hilfe und hat dazu ein Fundraising-Event in den Räumen seiner Kirchengemeinde initiiert. Uns in Deutschland sind dieses Events zumindest für private Anliegen eher fremd, in Kenia hingegen sind diese ganz normal.
Und tatsächlich sind alle wichtigen Personen aus Pauls Leben angereist: Familienmitglieder, Freunde aus der Highschool-Zeit sowie Arbeitskollegen. Man spürt die enge Verbindung, die sie zu ihm haben und wie sehr sie ihm helfen wollen, seinem Traum, ein Studium in Down Under, näher zu kommen. Ich weiß nicht, wie andere Fundraising-Events in Kenia ablaufen, aber bei Pauls Beispiel ähnelte das Event eher einem Gottesdienst mit einer kleinen Predigt, Musik, der Vorstellung der verschiedenen anwesenden Personen sowie das Sammeln von Geld. Freunde und Mitglieder seiner Gemeinde helfen bei der Durchführung der Veranstaltung.
Fazit: Um Hilfe bitten ist keine Schande
Diese drei Erlebnisberichte zeigen, wie sich Menschen in Kenia auf unterschiedliche Weise gegenseitig unterstützen. Mir hat das nochmal deutlich gemacht: Wir Menschen brauchen einander – egal, ob wir in Kenia oder in Deutschland leben. Mein persönlicher Eindruck ist, dass in Kenia das Bewusstsein dafür stärker ausgeprägt ist, als in Deutschland.
Man verwendet in Kenia oft Begriffe wie “Fellowship” oder “Community” (Gemeinschaft) – ohne ein Netzwerk aus Familie, Freunden, Bekannten sowie Nachbarn kann man in diesem afrikanischen Land kaum überleben. Dementsprechend ist es auch keine Schande, wenn man dieses Netzwerk um Hilfe bittet. Man wird dann nicht ausgelacht oder als schwach bezeichnet, ganz im Gegenteil: Wenn es einen Bedarf gibt, kommen die Menschen zusammen und helfen, wie es gerade möglich ist. Können wir uns in Deutschland etwas davon abschauen? Müssen wir vielleicht lernen, in Not auch mal mutig in unseren Gemeinden, Freundeskreisen oder in der Familien zu kommunizieren, wenn Probleme oder Nöte da sind, die wir alleine nicht überwinden können?